· 

We don't like America right now

Die Bindungstheorie erklärt, wie sehr Kinder auf ihre Bezugspersonen angewiesen sind - während in den USA Familientrennungen mit Bibelstellen begründet werden. Ein aufgewühlter Kommentar

 

"I want my mum"

Psychiater John Bowlby (1907 - 1990) behandelte in den 30er Jahren in einer Londoner Klinik verhaltensauffällige Kinder. Damals galt, dass Kinder sich an die Person binden, die ihnen zu essen gibt. Wenn er in seinem Alltag Begrüssungen und Abschiede voller Emotionen beobachtete, schien ihm dies aber viel zu kurz gegriffen. In ihm wuchs die Überzeugung, dass diese Beziehungen auf mehr als Kalorien basierten, und seine lebenslange Suche nach einer neuen Theorie, und der Kampf um ihre Akzeptanz in Fachkreisen, begann.

In den 50er Jahren filmte er für eine Studie die zweijährige Mary im Spital. Wie damals üblich, blieb sie während mehrerer Tage alleine in der Klinik und wurde nur ab und zu von ihren Eltern besucht - man ging davon aus, dass Kinder sich an die aussergewöhnliche Situation gewöhnten, weil sie nach einer Weile aufhörten zu weinen. Bowlby und sein Kollege hielten auf Film fest, wie Mary nach ihrer Mutter rief, wie sie traurig und verstört war und sich an ihren Teddy klammerte. Ruhig wurde sie nur, weil sie resignierte - auch nach Tagen war sie sichtlich aufgewühlt. Der Chefarzt der Klinik bestätigte Bowlby, dass diese Trennungen für Kinder sehr schwierig seien.

 

“Das Baby und das kleine Kind sollten eine warme, intime und konstante Beziehung mit ihrer Mutter (oder einer anderen permanenten Bezugsperson) erleben, in der beide Freude und Zufriedenheit finden.” So formulierte Bowlby daraufhin einen ersten Ansatz seiner Bindungstheorie, die er ein paar Jahre später erstmals vorstellte, und die von seiner Kollegin Mary Ainsworth (1913 - 1999) ergänzt wurde. Sie gilt heute als Standard, um Beziehungen zwischen Kindern und Bezugspersonen, aber auch zwischen Erwachsenen, zu beschreiben.

 

In aller Kürze: Bowlby & Co. stellten als erste fest, dass Kinder eine sichere Basis brauchen, für die mehrere Bezugspersonen verantwortlich sein können. Wenn sie wissen, dass diese Basis immer für sie da ist, können sie Ausflüge in die Welt unternehmen und wieder darauf zurückkehren.

Ist sie nicht verfügbar oder unauffindbar, entsteht eine tiefe Unsicherheit, die Ängste, Wut, Traurigkeit und Verzweiflung auslöst. Solche Erfahrungen sind später nur mit grossem Aufwand korrigierbar. Es geht buchstäblich die Welt unter.

 

"Papa! Papa!"

Seit Mai 2018 wurden 2300 Kinder an der mexikanischen Grenze der USA von ihren Eltern getrennt und in Unterkünften untergebracht, darunter Kleinkinder und Babys. New Yorks Bürgermeister Bill de Blasio sah bei einem Besuch in einem Shelter in Harlem ein neunmonatiges Baby, er berichtete, einige Kinder hätten Läuse, Bettwanzen oder ansteckende Krankheiten wie Wilde Blattern, viele bräuchten dringend psychologische Betreuung. 

 

Bilder und Tonaufnahmen der Trennungen von Kindern und Eltern gingen um die Welt, sie mussten von den Medien teilweise mit Trigger-Warnungen versehen werden. Hillary Clinton sprach von einer humanitären Krise - Satiriker Seth Meyers sagte, “this is who we are now.” Das Entsetzen ging durch beide politischen Lager, mit Ausnahmen natürlich, die rechte politische Kommentatorin Ann Coulter beschwor den Präsidenten, er solle nicht auf die Schreie dieser “child actors” hören.

 

Und es geht noch schlimmer. Jeff Sessions bezog sich auf das Neue Testament, um Kirchenvertreter, die sich gegen die Familientrennungen aussprachen, zur Vernunft zu bringen: Apostel Paulus habe dazu aufgerufen, den Gesetzen der Regierung zu folgen. Auch Sarah Huckabee Sanders, Sprecherin des Weissen Hauses, sagte: “es ist sehr biblisch, Gesetze umzusetzen.” 

 

Am 20. Juni versprach Donald Trump unter hohem politischem Druck, die Praxis zu beenden - wobei unklar bleibt, wie schnell die Umsetzung erfolgen wird, und was mit Familien passiert, die als Kriminelle an der Grenze festgehalten werden. Nancy Pelosi, Vorsitzende der Demokraten im Repräsentantenhaus beschrieb die Richtungsänderung als Deal mit dem Teufel, traumatisierte Kinder würden künftig auch nicht beschützt, sondern mit ihren Eltern in gefängnisähnlichen Verhältnissen festgehalten.

 

Die Kinder seien ja gut betreut und bekämen zu essen, hiess es. John Bowlby bewies bereits vor siebzig Jahren, wie lächerlich es ist, die Bedürfnisse von Kindern auf essen und trinken zu reduzieren - sie brauchen ihre Bezugspersonen. Es ist unvorstellbar, was es in ihnen auslöst, wenn diese vor ihren Augen abgeführt werden, und niemand weiss, ob und wann sie sich je wiedersehen.

 

“I didn’t like the sight or the feeling of families separated”, lautete das Statement des amerikanischen Präsidenten am Mittwoch.

 

Er mochte es nicht, getrennte Familien zu sehen. Er mochte es nicht, Babys, Kinder während Wochen von ihren Eltern zu trennen, und ihre Not auf die herzloseste Art und Weise als politisches Druckmittel zu missbrauchen.

 

Unfassbar, ungeheuerlich, furchtbar schwammige Worte für den König der markigen Einzeiler. Mr president, this is despicable beyond words. We don't like America right now.